Wirf deinen Schatten Sonne

Essay zur Zeitmessung an Karmelenberg und Goloring
Dr. Wolfgang Zäck, Mayen, 1992
















O ewich is so lanck
(Tor zum alten Kirchof in Oldenburg)













Auf dem Weg zur Erkenntnis






Per speculum in aenigmate facie ad faciem ..., wie durch einen Spiegel, rätselhaft, von Angesicht zu Angesicht sah Philipp Weckbecker die schnurgerade, schier endlose Lindenallee entlang, die vom Dorf aus stetig ansteigt. Er erkannte sich selbst wieder. Doch dann erschien ihm plötzlich der Karmelenberg, schroff und finster; ein schmaler Kreuzweg windet und krümmt sich empor, steil und holprig, dem himmlischen Ziel entgegen, wo die Gipfelbäume auseinanderweichen und die erhabene Marienkapelle wie die Sonne leuchtet, respenduit sicut sol.

O widerspenstige eitle Torheit, o blinder vermaledeiter Altersstarrsinn! Schweren Herzens und von Selbstzweifeln gequält gestand sich Philipp ein, daß sein erster Augen-Blick dort droben nicht der Kapelle galt, sondern der Sonnenuhr. Er hatte ihre Geometrie entworfen und in den Vordergrund des Gebäudes gerückt, als Blickfang, dem Aufstieg des erschöpfenden Pilgerpfades gleich gegenüber, als ein Abbild der großen Sonne-Erde-Beziehung, so wie auch der Karmelenberg selbst in den ewigen Wechsel von Licht und Schatten gesetzt worden war. - Doch siehe da, im gleichen Lichte göttlicher Verklärung (Transfiguratio) erstrahlte übermächtig und drohend auch ... Elias, und Philipp wandt sich schaudernd ab.

In principio erat verbum, im Anfang war das Wort ... Wie kam es zu jenen denkwürdigen Ereignissen, die sich wie eine Kausalkette entwickelten und aneinanderreihten, keinen Ausweg zuließen und in strenger Linearität auf den Karmelenberg zuliefen?

Eines Morgens, im Frühjahr 1662, beauftragte ihn Graf Johann Lothar, einen geeigneten Bauplatz für eine kleine Kapelle ausfindig zu machen, eine Kapelle zu Ehren der Muttergottes. Erst viel später erfuhr Weckbecker von Gräfin Anna Magdalena, ihr Gatte habe schon lange eine solche Absicht erwogen, einen endgültigen Entschluß aber erst gefaßt, als er durch die Fürbitte der heiligen Muttergottes von einer Krankheit genesen sei. - „Er kam in einen heilsamen Schlaf und schlief fast 6 Stunden aneinander; als er erwachte, waren ihm seine Kopfschmerzen vergangen, welches dann seine Andacht zur Muttergottes vermehrte.“ - Philipp Weckbecker schwieg. War ihm die Gräfin Rechenschaft schuldig? Er wußte nur allzu gut, daß die Frömmigkeit der Familie von Waldbott-Bassenheim letztlich in der überzeugenden Marienverehrung der Gräfin wurzelte, so wie einst die hl. Hildegard von Bingen in stiller Gelassenheit und glühender Liebe zur Kirche die Großen ihrer Zeit bekehrt hatte. Philipp verneigte sich vor einer großen Mystikerin und unterdrückte seine Verlegenheit vor einer Frau. O ja, eine Frau, eine betörende Frau, deren Charme des Mesners verwirrtes Herz mit so unsäglicher Schwermut zu erfüllen vermochte. - Verlockende Umwege, erschreckende Abgründe taten sich auf, die den Himmel versprachen ... O domina divina!

De hoc satis, genug davon! Zurück zur Chronistenpflicht! Ispa die, noch am gleichen Tage rief Philipp einige ortskundige Männer aus dem Dorfe zusammen und war mit ihnen unterwegs in der Umgebung Bassenheims.

Et ipsi loquebantur de his omnibus ..., sie sprachen miteinander über all das, was sich zugetragen hatte an diesem oder jenem Ort, der für den geplanten Kapellenbau bereits belegt war, weil er immer wieder von bösen Geistern heimgesucht und deshalb von der Bevölkerung gemieden wurde. So zum Beispiel der „Jollebösch“ (Gollenbusch oder Golobüsch). Zwischen den zahlreichen Grabhügeln lauerten dubiose Gestalten, erschienen die unseligen Geister der Toten. - Oder der Hexenberg: in dämonischen Ächten stiegen dort die Hexen empor, trafen sich zu schauerlichen Zusammenkünften und tanzten um heidnische Steine auf dem Gipfelplateau herum, ehe sie wieder im Berg verschwanden. - Und dann gab es den geheimnisumwitterten Goloring, wo der Unhold aus der Genovevalegende so grausam bestraft worden war und noch immer ruhelos sein Unwesen treib.













Et factum est, dum fabularentur et secum quaererent, und es geschah, während sie so miteinander redeten und sich befragten, was darüber hinaus ihr bäuerliches Brauchtum und der heimatliche Festkalender an alten Formen bewahrt hatte, da fing des Mesners Herz an zu brennen, cor suum ardens erat. Mit geometrischen Methoden rückte er den Mythen und Visionen des Volksglaubens zu Leibe. Und er begann mit dem Zeitrechnungswesen der Alten und legte auseinander, was er in den Schriften der Laacher Bibliothek darüber geschrieben fand. Er stieß auf Parallelen zu seiner Kalenderforschung jenseits der bekannten Schul- und Bibelweisheit, und er kehrte in immer neuen Kreisen zur Heimat zurück.

Mußten nicht die Menschen ängstlich nach den Zeichen der Zeit Ausschau halten, bevor sie die naturgesetzlichen Zusammenhänge deterministisch zu deuten verstanden? - Mußte der Volksmund nicht alle Naturerscheinungen in Symbole und Mythologien einkleiden, damit sie den Menschen geläufig und anschaulich wurden?


Abbildungen: Heutiger Zustand des Golorings. Sonnenuntergang über dem Karmelenberg.












- Wieviel Hoffnung stieg in den Herzen der Menschen gleichsam mit der Sonne empor, wenn das erste Licht am Morgen erschien, die kalten Neben um die Hochfläche am Hexenberg vertrieb, und wenn der Frühling den Winter ablöste! Welche Angst vor bösen Geistern ließ die untergehende Sonne zurück, wenn das letzte Licht über dem Hexenberg feurig erlosch! Und es gab keine trostloseren Ort als die Dreitonnenkuppe, wo die ferne kalte Sonne die traurige Botschaft der Hingerichteten aushauchte, bevor sie in die jenseitige Welt versank.

Aber heute, ja heute, im Zeichen des (cartesischen) Rationalismus war dieser alte Okkultismus doch entschlüsselbar und im wahrsten Sinne des Wortes „verständlich“. All die Visionen und Fiktionen, als die aus der Erfahrung geschöpften Erkenntnisse waren vernunftgemäß von logischer, gesetzmäßig berechenbarer Beschaffenheit - cogito ergo sum.

Et aperti sunt oculi, sogleich wurden seine Augen aufgetan und er erkannte. Et surgentes eadem hora, und er machte sich noch in der nämlichen Stunde auf, eilte nach Bassenheim zurück und fand sich bei Graf Johann Lothar ein.























Essay zur Zeitmessung an Karmelenberg und Goloring
Dr. Wolfgang Zäck, Mayen

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Scanwork Oktober 2004












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